Meritokratie: Das Märchen von der Chancengleichheit

Schreibmaschine mit dem Wort Meritokratie

Vom Tellerwäscher zum Millionär, vom ersten selbstgebauten Computer in der Garage zum Multimilliarden-Dollar-Unternehmen, Silicon Valley, der amerikanische Traum. Leistungsgesellschaft. Meritokratie. Sie alle haben eines gemeinsam: den Glauben, dass die Besten es automatisch an die Spitze schaffen. Wer hart genug arbeitet, der hat Erfolg.

Der Begriff Meritokratie stammt ursprünglich aus der Politikwissenschaft. Dort versteht man unter Meritokratie ein Herrschaftssystem, in der politische Führer oder Herrscher aufgrund ihrer besonderen Leistung oder ihres Verdienstes ausgewählt werden. 

Die utopische Vorstellung von Meritokratie hebt dabei hervor, dass eine auf reiner Leistung basierende Gesellschaft Anreize bietet, das Beste aus sich herauszuholen, was letztendlich zu positiven Effekten für die gesamte Gesellschaft führt. Gerne wird dieses Prinzip auch auf Unternehmen und die Business-Welt übertragen, mit dem Argument, dass diejenigen, die am meisten leisten und die besten Voraussetzungen mitbringen, in Führungspositionen befördert werden.

Das klingt vielversprechend, ist in Wirklichkeit aber Fiktion, denn Meritokratie setzt voraus, dass alle die gleichen Startchancen haben, dass Vorurteile und gesellschaftliche Ungleichheit nicht existieren. Die Theorie ignoriert widrige Umstände, die leistungsfähige Menschen von der verdienten Führungsposition fernhalten. Nehmen wir ein kurzes Beispiel: Es ist psychologisch erwiesen, dass sich Menschen zu anderen hingezogen fühlen, die ihnen ähnlich sind, die ähnlich aussehen, einen ähnlichen Hintergrund haben und die gleichen Interessen mitbringen. Ist der Chef also ein weißer Mann aus einer Akademikerfamilie mit Universitätsabschluss, dann hat das beispielsweise Auswirkungen wie er Kandidat*innen bei einem Bewerbungsverfahren wahrnimmt: Ein Kandidat mit einem ähnlichen Hintergrund ist ihm dann vielleicht sympathischer als eine Kandidatin mit Migrationshintergrund – obwohl beide die gleiche Qualifikation mitbringen. Das ist keine böse Absicht, sondern beruht auf unbewussten kognitiven Verzerrungen und unbewussten Denkmustern. Im Englischen spricht man hier von „Unconscious Bias“.

Schlüsseln wir die Faktoren im Folgenden einmal im Detail auf:

1. Fehlende Gerechtigkeit von Anfang an

Unsere Gesellschaft bietet schlichtweg nicht allen die gleichen Chancen und einige haben von Anfang an bereits einen Startvorteil. Bleiben wir beim Beispiel der Akademikerkinder. Laut Hochschulbildungsreport 2020 starten 74 von 100 Akademikerkindern ein Studium, bei Nichtakademikerkindern sind es gerade einmal 21. Das setzt sich dann bei den Abschlüssen fort: 63 von 100 Akademikerkindern machen einen Bachelorabschluss, 45 dann auch den Master. Bei Nichtakademikerkinder sind es gerade einmal 15 bzw. 8. Neben der Bildung spielen Faktoren wie das Einkommen der Eltern, die ethnische Herkunft und der Job beziehungsweise Status der Eltern eine Rolle für den Erfolg der Kinder. Jüngst machte der Begriff „Nepo Baby“ online die Runde. 

Figur mit einer Waage

Gemeint sind damit die Kinder von Hollywoodstars, die ebenfalls eine erfolgreiche Schauspielkarriere begonnen haben – unterstützt durch die guten Verbindungen der Eltern. Nepotismus ist aber nicht nur in Hollywood weit verbreitet. Wer beispielsweise aus einer Unternehmerfamilie kommt, dem ist oft nicht nur der Weg ins Familienunternehmen bereits vorgeebnet, meist verfügen die Eltern oder andere Familienmitglieder über genügend Kontakte, um dem Nachwuchs auch auf dem Weg in eine andere Karriere zu unterstützen – und sei es nur, weil man weiß, wo gerade Stellen ausgeschrieben sind und wer die besten Aufstiegschancen bietet. Allein dieser Wissensvorsprung ist ein wichtiger Karrierefaktor, der beispielsweise Arbeiterkindern fehlt.

2. Äußere Einflüsse verhindern Chancengleichheit

Hat man es tatsächlich erst einmal in eine erfolgreiche Karriere geschafft, heißt das nicht automatisch, dass es immer bergan geht, wenn man nur fleißig genug arbeitet und zu den Besten gehört. Es spielen noch andere Faktoren eine Rolle, die man selbst oft nicht kontrollieren kann. Unterbewusste Vorurteile sind nur ein Beispiel. Auch eine plötzliche Krankheit oder Burnout können sich negativ auf die Karriere auswirken. Fällt man deswegen für eine gewisse Zeit aus, dann verliert man oft den Anschluss. Im Zweifelsfall wird ein*e Kolleg*in befördert, weil man vielleicht gerade abwesend ist oder plötzlich als nicht mehr zuverlässig gilt, weil „damals waren Sie ja mal länger krank…“. Frauen können davon ebenfalls ein Lied singen. Wer wegen Schwangerschaft und Kinderbetreuung ausfällt, beziehungsweise flexiblere Arbeitszeiten benötigt, der bekommt oft genug die negativen Auswirkungen auf die Karriere zu spüren. Auch Neurodiversität spielt hier eine Rolle, wenn Unternehmen beispielsweise keine inklusive Arbeitsumgebung bieten und es so verhindern, dass alle Mitarbeiter ihr vollen Potential entfalten können. Damit verbauen sie einem Teil der Mitarbeiter – häufig unbewusst – die Aufstiegschancen.

3. Messbarkeit

Wie misst man eigentlich Erfolg? Und wie wählt man „die Besten“ aus? Oft lässt sich die Arbeitsleistung objektiv gar nicht beurteilen und subjektive Wahrnehmungen spielen eine große Rolle. Schauen wir auf ein weiteres Beispiel: Da ist der stille Kollege, der stets seine Arbeit schnell und zuverlässig erledigt, der aber nicht viel mit den Kolleg*innen oder den Vorgesetzten spricht. Auf der anderen Seite ist der selbstbewusste Typ, dessen Leistung weder besser noch schlechter ist, der aber den Erfolg gut kommuniziert, so dass auch die Vorgesetzten davon wissen. Man braucht nicht lange raten, wer bei der Beförderung bessere Chancen hat. Objektiv ist das nicht.

Symbolhafter Mann balanciert auf einem Seil auf eine Treppe zu

4. Individuelle Leistung vs. Teamgeist

Meritokratie geht davon aus, dass Leistungen von Individuen kommen und ignoriert dabei, die Rolle die Teams in Unternehmen spielen. Die Leistung einzelnen Personen zuzuordnen, ist nahezu unmöglich, denn unsere eng vernetzte Arbeitswelt lebt von der Aufgabenteilung. Mitarbeiter*innen sind keine Einzelkämpfer. Oder um es an einem anderen Beispiel zu verdeutlichen: Schauen wir einmal auf einen Künstler. Der hat ein Werk geschaffen, die Leinwand in stundenlanger Kleinarbeit mit Farbe gestalten. Man könnte nun sagen, das ist ganz klar die Leistung eines Individuums. Doch hat der Künstler am Anfang der Karriere Kurse bei anderen Malern besucht, dort das Mischen der Farben und die Maltechniken gelernt. Ab und an trifft man sich mit befreundeten Künstler*innen, bespricht die Arbeit, man gibt sich gegenseitig Kritik. Am Ende spricht der Künstler mit einer Galeristin, die Vorschläge zum Preis, zur Vermarktung und zum Bilderrahmen macht. All das fließt in das Werk ein. Ist es also wirklich noch eine komplett individuelle Leistung? Und das ist ein Extrembeispiel.

Dies sind nur einige Punkte, die zeigen, dass der Glaube an ein rein auf Leistung basiertes System nichts weiter ist als ein Märchen, das vor allem für diejenigen gut funktioniert, die bereits in einer Machtposition sind. Wer in einer Führungsposition ist, für den mag es sehr verlockend sein, von Meritokratie zu schwärmen, denn es gibt ihm oder ihr die notwendige Rechtfertigung für die eigene Machtposition. Kritiker sehen das nicht nur als problematisch an, sondern bezeichnen es sogar als gefährlich: Meritokratie in Unternehmen sei nichts weiter, als das Festhalten an Jahrzehnte alten Diskriminierungs-Mechanismen und damit einer modernen Arbeitswelt nicht mehr angemessen.

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